Das erwartet Sie in dieser Newsletter-Ausgabe:
Würfel, die unter Bechern liegen
Richter, die nicht unter den Becher gucken wollen
und der wohl höchste Spieleinsatz in der Geschichte der Menschheit
1. Das Spiel
1993 erhielt ein Spiel den Titel “Spiel des Jahres”, das es so ähnlich schon seit rund 200 Jahren gibt: Richard Borgs Bluff, damals noch produziert von F. X. Schmid. Mit ein, zwei neuen Regeln und einem Spielbrett ist das Würfelspiel im Kern immer noch eine Variante des südamerikanischen Spiels Dudo, das man hierzulande unter regional unterschiedlichen Namen und leicht voneinander abweichenden Regeln kennt: Meiern, (Lügen-)Mäxchen, Meterpeter oder auch Einundzwanzig. Das Spielprinzip ist so einfach wie spannend, sodass es auch nach 200 Jahren noch für Platz 61 unter den Partyspielen bei der Spieledatenbank Boardgamegeek reicht.
Eine der zahlreichen Spielvarianten funktioniert so: Alle Spieler*innen würfeln je zwei Würfel verdeckt in ihren jeweiligen Würfelbechern. Eine erste Person guckt sich, weiterhin verdeckt, ihr Ergebnis an und macht — nach den jeweiligen lokalen Regeln — eine Aussage darüber. Dabei kann die Person die Wahrheit sagen oder bluffen und lügen. Dazu wird der höhere der beiden Würfelwerte als Zehnerstelle und der niedrigere als Einerstelle verwendet: Zum Beispiel: “Bei mir ist eine 31 zu sehen.”
Die nächste Person hat zwei Möglichkeiten: Sie kann das Ergebnis überbieten: “Ich habe sogar eine 32!” Oder sie kann die Aussage der vorherigen Person als zu hoch anzweifeln: “Du lügst!”
Nur in diesem Fall wird auch überprüft, ob die Person gelogen hat. Hat die vorherige Person gelogen, erhält sie Punktabzug. War das Ergebnis richtig, verliert die anzweifelnde Person Punkte.
Bei diesem Spiel ist es von Vorteil, wenn man gut bluffen kann. Noch besser ist es, wenn man gar nicht erst lügen muss, weil man ohnehin höhere Zahlen gewürfelt hat. Klar ist auch: Wenn niemand unter den Becher guckt, werden die angesagten Zahlen immer weiter anwachsen, wie die Nase von Pinocchio.
2. Das Urteil
Und damit zu einem anderen Thema: Der Klimakrise. Keine Sorge, ich komme gleich wieder auf dieses Spiel zurück.
Als 2018 mehrere Umweltverbände die Bundesregierung auf mehr Klimaschutz verklagten, stellte dies das Bundesverfassungsgericht vor zentrale Fragen: Muss die Bundesregierung das Klima schützen — und wenn ja, wann ist es genug Klimaschutz?
Die erste Frage ist relativ leicht zu beantworten: Ja, muss sie. In Artikel 20a des Grundgesetzes heißt es: “Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen […].” In seinem Urteil 2021 schreibt das Bundesverfassungsgericht zudem, dass auch das Grundrecht auf Eigentum eine “Schutzpflicht des Staates hinsichtlich der Eigentumsgefahren des Klimawandels” einschließt. Dafür können auch drastische Mittel eingesetzt werden. Das Gericht erklärt, dass künftig “selbst gravierende Freiheitseinbußen zum Schutz des Klimas verhältnismäßig und verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein” könnten. Oha!
Der vielleicht spannendste Punkt des Urteils ist, dass das Bundesverfassungsgericht dann die Logik umdreht: Gerade, weil die Klimakrise auch extreme Freiheitseinschränkungen rechtfertigen würde, muss die Bundesregierung Wege finden, das Klima mit möglichst geringen Freiheitseinbußen ausreichend zu schützen.
Der Schlüsselbegriff lautet “Vollbremsung”: Die Bundesregierung muss also jetzt den Übergang zur Klimaneutralität vorantreiben, sodass nicht in einigen Jahren eine Vollbremsung aller klimaschädlichen Aktivitäten vorgenommen werden muss und dann keine fertigen Alternativen bereitstehen. (Bitte alle anschnallen, wir kommen auf die Vollbremsung zurück!)
Wörtlich heißt es in dem Urteil:
“Praktisch verlangt die Schonung künftiger Freiheit hier den Übergang zu Klimaneutralität rechtzeitig einzuleiten. In allen Lebensbereichen ‒ etwa Produktion, Dienstleistung, Infrastruktur, Verwaltung, Kultur und Konsum, letztlich bezüglich aller heute noch CO2-relevanten Vorgänge – müssen Entwicklungen einsetzen, die ermöglichen, dass von grundrechtlicher Freiheit auch später noch, dann auf der Grundlage CO2-freier Verhaltensalternativen, gehaltvoll Gebrauch gemacht werden kann.”
Das Gericht baut damit eine ordentliche Drohkulisse auf. Es macht klar, dass die Verfassung den Auftrag zum Kampf gegen die Klimakrise gibt. Und auch die dafür nötigen Mittel bereithält.
Kleinlaut werden die Karlsruher Richter allerdings bei der Frage, wann die ganz großen Kaliber aus dem Waffenschrank zur Klimakrisenbekämpfung gezogen werden dürfen. Denn das ist die Gretchenfrage unserer Zeit: Wann ist es denn genug mit dem Klimaschutz?
3. Das Budget
Das Gericht verweist zunächst auf das Pariser Abkommen. Ihr wisst: Der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur muss danach auf deutlich unter zwei Grad Celsius und möglichst auf 1,5 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau begrenzt werden.
In einem zweiten Schritt geht das Gericht davon aus, dass es ein gewisses “CO2-Budget” gibt, also eine Menge an CO2, das Deutschland noch endgültig zur Verfügung steht. Wenn Deutschland und andere Länder mehr CO2 in die Atmosphäre pusten, als ihnen in ihren Budgets jeweils zusteht, wird das Paris-Ziel überschritten.
(Ja, auch andere Treibhausgase sind ein Problem, aber die werden an dieser Stelle weggelassen. Zum einen, weil CO2 fast 90 Prozent der deutschen Treibhausgase ausmacht. Zum anderen, weil CO2 einfach verdammt lange in der Atmosphäre bleibt.)
Mit dem Pariser Klimaabkommen ist CO2 also neben Geld eine Art weitere Währung geworden, mit der die Bundesregierung haushalten muss. Doch ein richtiges CO2-Finanzministerium oder ein CO2-Bundesrechnungshof fehlt. Jeder Cent im Bundeshaushalt muss in langwierigen Beratungen verplant werden, jeder Gesetzesentwurf enthält eine Kostenschätzung. Die Strukturen für den Umgang mit CO2 sind dagegen dürftig.
Das könnte auch daran liegen, dass es keine Zahl gibt, die endgültig die Grenzen für Diskussionen und Verhandlungen setzt. Natürlich gibt es auch beim Bundeshaushalt Rechentricks, aber bei einem Gesamtvolumen von 476,81 Milliarden Euro im Jahr 2024 kann man Ende doch detailliert darüber verhandeln, wie viele Millionen Euro statt in Autobahnraststättenklos in Fahrradparkhäuser investiert werden.
Beim Klima gibt es zwar auch die Ziele der Bundesregierung, aber die sind weitgehend willkürlich gewählt — und ein Überziehen des Budgets bleibt bislang folgenlos. Beim Haushalt wäre dieses Vorgehen unvorstellbar: Wir haben kein Geld mehr für Autobahnen? Egal, einfach weiterbauen.
Letztlich spielt die Bundesregierung hier mit den Gerichten Lügenmäxchen: Auf der Seite der Bundesregierung wird geblufft, bis sich die Balken biegen. Ja klar, natürlich haben wir ein ganz, ganz großes CO2-Budget unterm Würfelbecher.
Nun wären also die Gerichte an der Reihe, unter den Becher zu gucken und Klarheit zu schaffen.
4. Die Pi-Mal-Daumen-Rechnung
Es gibt verschiedene Gründe, warum die Berechnung eines CO2-Budgets nicht einfach ist. Der erste ist die sehr breite Formulierung des Pariser Klimaziels. Was heißt es, die Erderhitzung “möglichst auf 1,5 Grad Celsius” zu begrenzen? Wäre nett, aber naja, sind eben doch deutlich mehr geworden? Und was heißt “deutlich unter zwei Grad Celsius”? Müssen es 1,5 Grad sein oder reichen auch 1,9999?
Dann gibt es auch noch die statistische Unsicherheit von Klimamodellen, die sich auf die Berechnung des Budgets auswirkt. Wenn mir eine Fifty-Fifty-Chance, die Erderhitzung auf zwei Grad zu begrenzen, ausreicht, kann ich deutlich mehr Klimagase in die Luft pusten, als wenn ich zu 99 Prozent sicher sein und kein Risiko eingehen will.
Wie wird das globale CO2-Budget auf die Länder aufgeteilt? Pro Kopf? Oder soll Liechtenstein genauso viel erhalten wie Deutschland? Steht Staaten mit industrieller Produktion mehr zur Verfügung — oder gerade weniger, weil sie bereits reicher sind? Das Pariser Klimaabkommen sagt dazu nur, dass die Staaten eine "gemeinsame, aber jeweils unterschiedliche Verantwortung" haben. Der Pro-Kopf-Ansatz ist danach eigentlich noch nicht ambitioniert genug für ein vergleichsweise reiches Land wie Deutschland.
Und dann gibt es noch die Frage: Ab wann rechnet man? Ab dem Start der industriellen Revolution achtzehnhundertirgendwas? Ab der Verabschiedung des Pariser Klimaabkommens 2015? Oder ab Verabschiedung der Klimarahmenkonvention 1992? Je nach Startdatum fällt der übermäßige Verbrauch des Budgets in den vergangenen Jahr(zehnt)en mehr oder weniger stark ins Gewicht. Rechnet man etwa ab der industriellen Revolution, hätte Deutschland beispielsweise enorme “Klima-Schulden” bei Ländern wie Peru, weil es mehr als der gesamte südamerikanische Kontinent verbraucht hat und damit weitaus mehr, als ihm zustünde.
Diese Unklarheit bei der Berechnung ist ein bug und ein feature zugleich:
Der Vorteil war 2015, dass sich sage und schreibe 195 Länder auf das Klimaabkommen einigen konnten. Eine einzige Gegenstimme hätte das Abkommen zerstört. Gerade weil das Paris-Ziel so viel Spielraum bietet, die eigene Rolle unterschiedlich zu interpretieren, war es vielen Ländern möglich, zuzustimmen.
Die vage Beschreibung von CO2-Budgets ist gleichzeitig katastrophal. Wenn alle sich einzeln die für sie jeweils bequemste Rechnung aussuchen, landen wir bei Temperaturen weit oberhalb von zwei Grad — und könnten gefährliche Kettenreaktionen in Gang setzen.
(Ich finde, der Fachbegriff dafür sollte, wie bei Aufzügen, “Absturz nach oben” sein.)
Diese Karte zeigt die Problematik sehr gut: Die Studienautoren haben dafür angenommen, dass sich jedes Land die für sich anspruchsloseste Interpretation des Pariser Abkommens aussuchen kann. Dann haben sie berechnet, wie weit die Erderhitzung fortschreiten würde, wenn alle Länder den jeweiligen Ansatz wählen würden. Mit dem für Deutschland bequemsten Rechenansatz kämen wir auf dem Thermometer in den orangenen Bereich — weit über 2,0 Grad.
5. Lügenmäxchen, Runde 1
Im Vorfeld des ersten Karlsruher Klimaurteils hatte sich Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) als Vertreterin der damals noch CDU-geführten Bundesregierung geweigert, klar zu sagen, was unter ihrem Würfelbecher lag. Das Bundesverfassungsgericht versuchte daraufhin, das Budget, mit dem die Regierung rechnet, selbst zu ermitteln: Im Klimaschutzgesetz standen schließlich geplante Emissionsmengen — allerdings nicht für den Sektor der Energiewirtschaft und nicht für die Zeit nach 2030. Das Budget, mit dem die Bundesregierung rechnete, war dadurch nach oben offen. Diese Kreditkarte kannte kein Limit und der Gläubiger zeigte auch keine Absichten, sie jemals wieder zu decken. Für die Summe, die auch beziffert wurde, kam das Bundesverfassungsgericht auf ungefähr 6 Gigatonnen geplanten CO2-Emissionen.
Das verglich das Gericht mit einem Budget, das Deutschland bei einer Pro-Kopf-Rechnung zur Verfügung stünde, wenn ab Inkrafttreten des Pariser Klimaabkommens mit 75 Prozent Wahrscheinlichkeit die Erderhitzung auf 1,75 Grad begrenzt werden soll. Das wären 6,7 Gigatonnen.
“Nach 2030 verbliebe danach […] weniger als 1 Gigatonne”, schrieb das Gericht und meldete Zweifel an, ob das der Maßgabe entspricht, keine “Vollbremsung” einlegen zu müssen. Das Gericht wies die Regierung deshalb an, für die Zeit nach 2030 und für die Energiewirtschaft das Budget zu konkretisieren — damit es nicht mehr nach oben offen ist.
Der Knackpunkt ist an dieser Stelle leider folgender: Die 6,7 Gigatonnen sind damit nicht verbindlich geworden. Das Gericht argumentiert, dass die Bundesregierung einen weiten Spielraum habe, weil all diese Berechnungen zum CO2-Budget mit großer Unsicherheit verbunden sind.
Unter den Becher guckte das Gericht nicht.
Das musste es auch nicht: Es war für alle Beteiligten zu offensichtlich, dass die Bundesregierung sich nicht an das von ihr unterzeichnete Abkommen hielt. Das Problem ist nun allerdings, dass wir weiterhin nicht wissen, wie viel CO2-Budget rechtlich gesehen unter dem Becher ist. Wir haben weiter keine Zahl, mit der wir rechnen können. Keine Zahl, die nicht immer und immer wieder aufgeweicht werden kann.
Ich halte dieses Vorgehen des Gerichts für einen Fehler. Wenn man verhindern will, dass jeder Staat das ambitionsloseste Budget wählt; wenn man verhindern will, dass das Budget nur wenig verbindlich ist, muss man an dieser Stelle des Spiels zwingend unter den Becher gucken. Nur so kann es zu einer Wertung kommen. Wie gesagt: Wenn niemand unter den Becher guckt, werden in diesem Spiel die angesagten Zahlen immer weiter anwachsen. 🤥
Brisant ist auch, dass sich aktuell die Hinweise häufen, dass unter dem Becher womöglich gar kein Würfel mehr ist.
6. Die fehlenden Würfel
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung, auf dessen Berechnungen zum CO2-Budget sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil 2021 stützte, hat 2024 seine Berechnungen an den aktuellen Stand der Forschung angepasst.
Herausgekommen ist, dass bei sämtlichen Berechnungen mit 1992 als Startdatum das CO2-Budget Deutschlands vollständig verbraucht ist. Etwas günstiger sähe es mit 2016 als Startjahr aus. Doch auch da ist das Budget für eine Fifty-Fifty-Chance für 1,5 Grad bereits futsch.
Es gibt noch ein Restbudget, um eine Zweidrittelchance für 1,75 Grad zu wahren. Doch das reicht mit den geplanten Emissionen nur noch knapp zehn Jahre. Danach müssten wir ohne ungedeckte Treibhausgasemissionen auskommen.
7. Lügenmäxchen, Runde 2
Die schwarz-rote Bundesregierung zeichnete als Reaktion auf das Urteil 2021 einfach einen neuen Reduktionspfad. Das sich daraus ergebende Budget liegt oberhalb von den 6,7 Gigatonnen, die das Gericht mit den damaligen Daten ermittelt hatte. Wahrscheinlich blufft die Bundesregierung in dieser weiteren Runde von Meiern also erneut.
Die Deutsche Umwelthilfe klagte dagegen, doch das Bundesverfassungsgericht wollte nicht mehr mitspielen und wies die Klage ab. Damit tritt ein neuer Mitspieler auf die Bühne: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Dort wird die Klage nun verhandelt — und damit das deutsche CO2-Budget. Wie diese Runde Meiern ausgeht, wissen wir noch nicht. Aber wir können uns ansehen, wie das Gericht in einem ähnlichen Fall entschieden hat.
In seinem Urteil zur Klage der “Klimaseniorinnen” gegen die Schweiz hat das Gericht erklärtermaßen versucht, den großzügigsten zulässigen Standpunkt zu wählen. In dem Absatz des Urteils (569), in dem festgestellt wird, ob die Schweiz mit einem zu großen Budget rechnet, betrachtet das Gericht das Pro-Kopf-Budget für eine Zweidrittelchance, um das 1,5-Grad-Limit zu halten, beginnend mit dem Startdatum des beklagten Schweizer Klimagesetzes.
Wendet man die Rechnung der Straßburger Richter für Deutschland an, müssten wir, grob gerechnet, mit kontinuierlich sinkenden Emissionen, Nettonull innerhalb von etwa einem Jahrzehnt erreichen.
Unsere Debatten, ob nach 2035 noch Verbrenner verkauft werden dürfen, könnten also kaum realitätsfremder sein. Dabei ist die Sache einfach: Wer am Anfang des Monats sein Geld verschleudert hat (und für den Rest des Lebens auch keins mehr bekommt), kann sich zum Monatsende keinen SUV mehr kaufen.
Es ist Zeit, dass unsere Politiker*innen sich ehrlich machen.
8. Der Moment der Wahrheit
Die Frage ist nun, wie die Bundesregierung und das Bundesverfassungsgericht auf die Berechnungen des Sachverständigenrats und das Straßburger Urteil reagieren.
Es ist leider offensichtlich, dass die Bundesregierung von sich aus nicht ausreichend Maßnahmen verabschieden wird. Im Gegenteil: Christian Lindner (FDP) hat bereits zu Protokoll gegeben, dass er den Sachverständigenrat und dessen Berechnungen nicht anerkennt. Und Olaf Scholz (SPD) versucht offenbar, nicht öffentlich mit konkreten Klimaschutzmaßnahmen in Verbindung gebracht zu werden, und bleibt lieber bei theoretischen Bekenntnissen zu Klimazielen. Von den Parteien in der Opposition ist bei einem Regierungswechsel leider auch nichts zu erwarten.
Aber auch das Bundesverfassungsgericht ist bisher davon zurückgeschreckt, der Regierung konkrete Maßnahmen anzuordnen. Es drängt sich der Verdacht auf, dass sich beide nicht unbeliebt machen wollen und unangenehme Aufgaben lieber aneinander weitergeben.
Daraus könnten in Zukunft zwei gefährliche Entwicklungen entstehen: Das Bundesverfassungsgericht könnte die vage Formulierung des Pariser Klimaziels immer weiträumiger auslegen, bis irgendwann selbst eine Ein-Prozent-Chance für die Einhaltung des Zwei-Grad-Ziels als ausreichend akzeptiert wird. Die Bundesregierung könnte auf der anderen Seite darauf spekulieren, dass das Gericht seine Drohung von gerechtfertigten gravierenden Freiheitseinbußen nicht wahr macht.
Der worst case wäre, dass das Gericht das CO2-Budget so großzügig auslegt, dass irgendwann ausgerechnet die Vollbremsung notwendig wird, die mit dem Urteil 2021 verhindert werden sollte. Es könnte dazu kommen, dass so lange so wenig zum Schutz des Klimas unternommen wurde, dass unsere Verfassung auch extremste Maßnahmen zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen künftiger Generationen und zum Schutz des Eigentums verlangt. Dann stellt sich die Frage, ob die Regierung entsprechenden Urteilen überhaupt noch Folge leisten würde.
Hier steht nicht nur das Klima (und all seine Folgen) auf dem Spiel, sondern auch die Rechtsstaatlichkeit und unsere demokratische Verfassung.
Es wäre daher wichtig, dass das Bundesverfassungsgericht schnell die Spielchen der Bundesregierung beendet und unter den Würfelbecher guckt. Dazu hat es in neuen Klagen mehrerer Umweltverbände zum neuen Klimaschutzgesetz der Ampel-Koalition die Chance. Wie viel CO2-Budget ist wirklich noch da?
Wenn der Teil des Urteils, dass “selbst gravierende Freiheitseinbußen zum Schutz des Klimas verhältnismäßig und verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein” könnten, nicht einfach leere Prosa sein soll, wenn die Pflicht zur Schonung künftiger Freiheit tatsächlich effektiv geltendes Recht sein soll, muss das Bundesverfassungsgericht jetzt ernst machen.
Es braucht Klarheit über das verbleibende Buget. Und es braucht verlässliche Maßnahmen zum Schutz unserer Freiheit — notfalls gerichtlich verordnet.
Mitspielen
Alle ab 14, die die Einhaltung des Pariser Abkommens gerichtlich erkämpfen wollen, können sich ohne persönliche Risiken den Klagen von Umweltschutzverbänden anschließen:
Hier kann man bis Ende August Kläger*in bei der Verfassungsbeschwerde von Greenpeace und Germanwatch werden. Deadline: Samstag, 31. August.
Hier kann man ideeller Pate der Klage der Deutschen Umwelthilfe werden.
Hier kann man die Klagen von Greenpeace finanziell unterstützen.
Hier kann man die Klagen der Deutschen Umwelthilfe finanziell unterstützen.
Hier kann man für die Klage des Solarenergie Fördervereins Deutschland spenden.
Empfehlungen
Allen, die noch mehr über Klimaklagen erfahren wollen, kann ich das Buch “Wir alle haben ein Recht auf Zukunft” von Roda Verheyen empfehlen. Sie ist eine von zwei Anwält*innen, die das Urteil von 2021 erstritten hatten, und ist die Juristin hinter der neuen Klage von Greenpeace und Germanwatch.
Besonders spannend fand ich, dass das deutsche Klimaurteil sich sehr am Klimaurteileines niederländischen Gerichts im Fall Urgenda orientierte. Erst in dieser Woche hat sich dann das Verfassungsgericht Südkoreas in einem Klimaurteil am deutschen Urteil von 2021 orientiert. Mehr Klimaschutz in einem Land kann also einen Domino-Effekt auslösen, der zu mehr Klimaschutz in anderen Ländern führt. Es sind Aspekte wie dieser, mit denen Verheyen Hoffnung macht. Es lebe copy paste!
Das Hörbuch ist unter anderem auf Spotify:
Eine spannende Frage, die sich in diesem Buch und in allen Umweltfragen stellt, ist diese: Wer spricht für die Natur?
In über 20 Ländern werden mittlerweile der Natur Rechte zuerkannt. In Deutschland wurden Flüsse, Wälder oder die Natur als Ganzes bislang eigentlich nicht als Rechtsperson gesehen. Das macht es schwierig zu klagen, weil Bürger*innen immer eine eigene besondere Betroffenheit bei Umweltverschmutzungen nachweisen mussten.
Wie der Anwalt Remo Klinger es trotzdem schaffte, mit Verheyen das Klimaurteil 2021 zu erringen, und was slowakische Braunbären damit zu tun haben, davon erzählt auch die zweite Folge des packenden Deutschlandfunk-Podcasts “Schmetterlingseffekt”.
Auch in Deutschland tut sich mittlerweile etwas in der Frage. Das Landgericht Erfurt hat Anfang August erklärt, dass die "Rechte der Natur" "von Amts wegen" zu berücksichtigen sind. Gefunden wurden diese Rechte im Recht auf Leben und im Recht auf körperliche Unversehrtheit der EU-Grundrechtecharta — genaugenommen in der französischen und der englischen Übersetzung der Charta.
Eine Antwort auf die Frage, wer für die Natur spricht, hat auch der Animationsfilm “Der Lorax” (2012), basierend auf einem Kinderbuch von Dr. Seuss aus dem Jahr 1971, gefunden. Auch wenn die Metapher des Films sehr on the nose ist, ist es eine originelle Auseinandersetzung mit dem Thema. Die Produktion von Thneed in dem Film erinnerte mich sehr an die Ausführungen des Philosophen und Internetphänomens Slavoj Žižek über Coca-Cola und Ü-Eier. Wie politisch die kindgerechte Kapitalismuskritik des Lorax ist, kann man auch daran sehen, dass das Kinderbuch in den USA immer wieder zensiert wurde. Der Film ist in Deutschland noch bis Ende August auf Netflix verfügbar.