78 Jahre später
Das Bundestags-Gedenken an queere Opfer des Holocausts: Eine längst überfällige Würdigung
78 Jahre ist es nun her, dass die Rote Armee Auschwitz befreit hat. Und 78 Jahre hat es gedauert, bis im Bundestag offiziell gezielt der queeren Opfer des Holocausts gedacht wurde. Man hat sich also so lange Zeit gelassen, bis alle queeren Zeitzeugen verstorben sind. Von den Männern, die mithilfe des Paragrafen 175 in KZ gesteckt wurden, starb der vermutlich letzte Verbliebene in Deutschland 2011.
Zuletzt war eine Gedenkstunde mit Fokus auf queere Opfer, wie es sie bereits für andere Opfergruppen gab, am eisernen Widerstand von Wolfgang Schäuble (CDU) gescheitert. Eine Petition, initiiert von Historiker Lutz van Dijk und unterstützt von einigen Holocaust-Überlebenden, wies Schäuble zunächst zurück mit
es ist zu früh für die Planungen für nächstes Jahr
und dann mit
tja jetzt haben wir leider schon etwas anderes geplant. Uups. Und nächstes Jahr haben wir übrigens leider auch keine Zeit. Kann man nichts machen.
Dieses Jahr war es dann so weit: Schäuble sitzt nicht mehr im Bundestagspräsidium und die CDU nicht mehr auf der Regierungsbank. Stattdessen saß Schäuble auf einer der hinteren Bänke und hörte sichtbar widerwillig zu, was in der von den Ampel-Parteien angestoßenen Gedenkstunde erzählt wurde.
Aber genug über Wolfgang Schäuble. Dass es diese Gedenkstunde nun gab, ist größer als das. Um das zu erläutern, muss ich etwas ausholen:
Geprägt von den Gräueltaten der Deutschen im Nationalsozialismus ist der Artikel 3 des Grundgesetzes entstanden. Die Merkmale spiegeln die verfolgten Gruppen wider — er ist damit eine direkte Reaktion und Lehre.
(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Leider wird mit dem Artikel aber auch sichtbar, wessen Verfolgung, Folter und Ermordung nicht erinnerungswürdig war — und wer auch weiterhin zum Ziel von Verfolgung gemacht wurde.
In der KZ-Gedenkstätte Dachau wird das besonders offensichtlich: Als 1968 dort als Mahnmal das sogenannte “Winkelrelief” eingeweiht wurde, blieb es unvollendet. Der Künstler wollte darin die farbigen Dreiecke abbilden, mit denen die Häftlinge von den Nationalsozialisten markiert wurden: rot etwa stand für politische Häftlinge, gelb für jüdische. Zwei gelbe Dreiecke ergaben den sogenannten “Judenstern”, aber auch Kombinationen aus mehreren Farben waren möglich. Zum Teil nutzten die Nationalsozialisten einzelne Buchstaben, um die Nationalität der Insass*innen zu kennzeichnen.
Das Mahnmal sollte in Gedenken an die Häftlinge eben all diese Winkelfarben abbilden — doch bis heute fehlen rosa, grün und schwarz, die Farben für diejenigen, die die Nazis als Homosexuelle, Kriminelle und Asoziale verfolgt hatten. Interveniert hatten Holocaustüberlebende anderer Opfergruppen, die nicht mit diesen Gruppen assoziiert werden wollten. Ich kann diese Abwehrreaktion menschlich sogar zum Teil verstehen: Auch heute ist es nicht untypisch, dass sich beispielsweise Schwule von anderen Schwulen abgrenzen, weil sie fürchten, dass deren ausgelebte Femininität ein schlechtes Licht auf die Community werfen könnte. Und so haben eben damals sich etwa Sozialisten von Schwulen distanziert, weil sie dem Irrglauben erlegen waren, nur so selbst gesellschaftliche Rehabilitierung zu erlangen.
Heute, 78 Jahre später gibt es erfolgsversprechende Bestrebungen, auch Homosexuelle und trans Menschen mit dem Artikel 3 des Grundgesetztes zu schützen. Ja, auch trans Menschen, denn, auch wenn die Begrifflichkeiten damals noch andere waren, wurden trans Menschen von den Nationalsozialisten verfolgt.
Doch genau betreffend die Diskriminierung von trans Menschen ist sich die CDU/CSU noch unsicher, ob sie bei einer Änderung des Art. 3 GG mitgehen möchte. Wenig überraschend, wenn man sich ansieht, wie Markus Söder die Rhetorik der transfeindlichen Nationalisten und Putschisten der USA übernimmt. Ohne die CDU/CSU ist eine Ergänzung des Grundgesetzes allerdings nicht möglich, denn für Verfassungsänderungen sind Zweidrittelmehrheiten nötig.
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes drängt auf eine solche Änderung mit der Begründung, queere Menschen seien die einzige Opfergruppe der Nationalsozialisten, die nicht in das Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes aufgenommen worden sind. Auch wenn die Ergänzung überfällig ist — wir sollten andere Opfergruppen nicht vergessen.
Dazu eine Empfehlung zu einem Deutschlandfunk-Hintergrund von Ann-Kathrin Büüsker:
Nach Kriegsende ging die gesetzliche Verfolgung Homosexueller direkt weiter. Die Alliierten hoben in Westdeutschland alle spezifisch nationalsozialistischen (Straf-)Bestimmungen auf — nicht jedoch die Paragrafen 175 und 175a RStGB. Sie stellten einvernehmlichen Sex zwischen erwachsenen Männern (im entsprechenden Gesetz für das besetzte Österreich auch zwischen Frauen) bzw. auch nur das Suchen davon unter Gefängnisstrafe bzw. Zuchthaus. Dieses Nazi-Gesetz galt also auch im Nachkriegsdeutschland weiter.
Eine Folge davon war, dass viele der homosexuellen Männer, die nach Kriegsende aus den Konzentrationslagern entlassen worden waren, wieder in Gefängnisse gesteckt wurden, weil die von den Nationalsozialisten verhängte Freiheitsstrafe als noch nicht verbüßt galt.
"Bis vor fünf Jahren galt ich als vorbestraft."
Diesen Satz sagte Klaus Schirdewahn in der Gedenkstunde im Bundestag. Schirdewahn wurde 1964 nach Paragraf 175 verurteilt und musste bis 2018 (!) unter den Folgen dieses Nazi-Gesetzes leiden. Man muss sich vor Augen führen, wie einschränkend es ist, als vorbestraft zu gelten, wie viele Türen verschlossen bleiben.
Dass es den Paragrafen heute in Westdeutschland nicht mehr gibt, ist in erster Linie der Wiedervereinigung zu verdanken, in deren Zuge 1994 der Paragraf, der zuvor schrittweise durch SPD und FDP gegen den Widerstand von CDU/CSU entschärft worden war, vollständig abgeschafft wurde. Die DDR war an der Stelle schneller liberaler.
Aber auch die SPD hat lange den Paragrafen mit aller Härte umgesetzt: Der damalige Hamburger Innensenator und spätere Bundeskanzler, Olaf Scholz’ erklärtes Vorbild Helmut Schmidt, hat 1964 Spionier-Spiegel in öffentlichen Toiletten anbringen lassen: Mit den verspiegelten Fenstern, hinter denen sich kleine Räume verbargen, wurden Toiletten überwacht. Dort gaben sich Polizisten als Cruiser aus, um Homosexuelle zu der strafbaren Tat zu verleiten, sie zu schlagen und sie hinter Gitter zu bringen.
Die erste größere Entschärfung des Gesetzes in Westdeutschland (Die DDR war in dieser spezifischen Frage von Anfang an deutlich fortschrittlicher, wenn auch nicht fehlerfrei) folgte in den 70er in einer rot-gelben Koalition, an die die Ampel-Koalition heute erklärtermaßen anknüpfen will. Vollständig abgeschafft wurde das Gesetz in Westdeutschland erst im Nachgang der Wiedervereinigung im Jahr 1994. Für eine Streichung hatte sich zuvor die FDP 1980 eingesetzt, war aber an der SPD gescheitert und änderte schließlich ihren Kurs, sodass 1989 nur die Grünen für ein Ende des diskriminierenden Gesetzes waren. Noch 1994 hätte ich für meine Beziehung zu meinem Partner mit bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt werden können.
Eine vollständige Rehabilitierung gibt es bis heute nicht. 2002 und 2017 wurden zwar die allermeisten der Urteile aus der Nazi-Zeit und der Bundesrepublik aufgehoben, doch selbst dabei setzte sich die CDU/CSU für einen Ausschluss von Opfern ein. Zudem fiel die Entschädigung mickrig aus.
Ich fürchte, an die letzten verbliebenen Opfer wird in der Politik niemand mehr denken.
Diese Gedenkstunde soll nun also, 78 Jahre später, der Wendepunkt im Umgang mit LBGTQIA* sein. Wurde bislang Diskriminierung nur langsam, Schritt für Schritt abgebaut, könnte nun der Punkt erreicht sein, ab dem aktiv an einer — in diesem Aspekt — vielfältigen, freien Gesellschaft gebaut wird. Und so sehr ich der Überzeugung bin, dass Gedenken an sich einen Wert hat, hoffe ich doch, dass die Gedenkstunde nicht einfach “nur” ein Feigenblatt bleibt. Dass sie keine Ausrede wird für ausbleibendes politisches Handeln. Und dass die Gleichstellung von LGBTQIA* nicht einhergeht mit der verstärkten Ausgrenzung anhand anderer Merkmale.
Die Gedenkstunde hat nämlich gezeigt, was möglich wäre:
Richtigerweise sprach (nach der Bundestagspräsidentin) zuerst Holocaust-Überlebende Rosette Kats. Sie versuchte im Erzählen ihrer eigenen jüdischen Verfolgungsgeschichte Parallelen und Verbindungen zu homosexuellen Opfern aufzubauen, sprach gar von einem eigenen “Coming-out” als jüdisch. So denkt man eine diverse, solidarische Gesellschaft! Wir gehören zusammen.
Der schwule Schauspieler Jannik Schümann und die lesbische Schauspielerin Maren Kroymann lasen Briefe an die im Holocaust ermordeten Karl Gorath und Mary Pünjer vor. Sie zeigten damit, wie Gedenken funktionieren kann, wenn es keine Überlebende mehr gibt, die ihre Geschichte erzählen können. Ein Gedenken, das (ironischerweise) weniger Gefahr läuft, die Mehrheitsgesellschaft zu entlasten, indem die Überlebenden eines Massemordes gegenüber den Ermordeten überrepräsentiert werden. Insbesondere das Beispiel von Mary Pünjer zeigte, dass das Gerede von einer “Opferkonkurrenz” an der Wirklichkeit vorbei geht: Sie war als Jüdin verhaftet worden und im KZ im Zuge einer Euthanasie-Aktion als “asoziale” “Lesbierin” ermordet worden.
Das Beispiel von Karl Gorath illustrierte den Umgang in der Bundesrepublik: Als Vorbestrafter erhielt er lange keine Arbeit. Seine Anträge auf Wiedergutmachung für in der NS-Zeit erlittenes Unrecht wurden allesamt abgelehnt. Schließlich sei eine Verurteilung unter Paragraf 175 kein NS-Unrecht, sondern entspreche „geltender Rechtsauffassung“.
Ich kann euch nur ans Herz legen, die Gedenkstunde anzusehen. Insbesondere, um Georgette Dee singen zu hören und um davon zu hören, wie Karl Gorath 1989 nach seinen polnischen Freunden Tadeusz und Zbigniew suchte, die er im KZ Auschwitz kennengelernt hatte.
Eine Ergänzung noch: Auch wenn das Winkelrelief in der KZ-Gedenkstätte Dachau weiter unvollständig bleibt: Dieses Jahr wurde dort auch an die LGBTQIA*-Opfer erinnert.