Das antiklimaktische Ende des ESC 2023
Wie der Mittelfinger von La Zarra verhindert worden wäre
Good evening Europe and good morning Australia!
Der Eurovision Song Contest 2023 ließ viele enttäuscht vor dem Fernseher zurück. Die schwedische Sängerin Loreen hatte gewonnen, obwohl das Publikumsvoting Käärijä aus Finnland die meisten Punkte zugeteilt hatte. Schon zu Beginn der Punktevergabe durch die Jurys zeichnete sich ein enormer Vorsprung Loreens bei den Jurypunkten ab. Die Zuschauer in der Halle in Liverpool waren dabei so frustriert, dass sie protestierend Käärijäs Lyrics “Cha Cha Cha” riefen, während Loreen Punkte erhielt. Selbst die Moderator*innen wirkten hilflos mit ihren Versuchen, die gute Stimmung in der Halle aufrechtzuerhalten.
Wie konnte das nur passieren?
Die Problematik
Während viele nun schlicht die Abschaffung der Jurys fordern, sehe ich insgesamt vier Probleme, die der diesjährige ESC aufgezeigt hat.
Am offensichtlichsten ist wohl, dass Loreen nicht gewinnen hätte sollen. Zu deutlich war der Vorsprung Käärijäs im Televoting: 133 Punkte mehr als Loreen hatte er erhalten.
Zudem hätte Loreen nicht so früh feststehen sollen: Letztlich wirkte es wie ein Kampf zwischen Jurys und der Öffentlichkeit und weniger wie ein Sich-gegenseitig-Ergänzen.
Während ich Forderungen nach einer Abschaffung der Jurys sympathisch gegenüberstehe, kann ich auch — im vollen Bewusstsein über die antislawischen Gründe für die Wiedereinführung der Jurys 2009 — auch Gründe für die Beibehaltung der Jurys verstehen. Sie sollten ein breites Spektrum künstlerischer Darstellungen belohnen: einem handwerklich guten Popsong ebenso Punkte zuteil werden lassen wie einer großartig gesungenen Arie. Das Jury-Ergebnis dieses Jahr spricht allerdings eine andere Sprache: Loreens “Tattoo” war sicherlich ein gut gemachter Song, aber eben auch nicht doppelt so gut wie jeder andere Beitrag. Wenn die Jurys über den Sieg mitentscheiden, sollten sie höchstens bei knappen Ergebnissen im Publikumsvote als Zünglein an der Waage wirken.
Auch am Ende der Tabelle gab es Probleme. Zahlreiche Künstler*innen hatten fast keine Punkte bekommen. In ihrer Frustration zeigte La Zarra sogar (auf eleganteste Weise) den Mittelfinger in die Kamera.
Besonders tragisch war das bei der Vergabe der Punkte aus dem Televoting. Zumeist bedeutete die Zuteilung der Punkte zugleich, dass die Künstler*innen den ESC nicht mehr gewinnen können. Es ist eine absurde Situation: Unzählige Menschen auf der ganzen Welt rufen für ihre Favoriten an — und wenn diese dann ihre Publikums-Punkte erhalten, sieht man nur traurige Gesichter.
Mit der Verkündung der Publikumspunkte habe ich außerdem ein generelles Problem: Ich will wissen, aus welchem Land die Punkte kommen.
Die Mechanik und Dramaturgie der Punktevergabe
Die Ursachen für diese Probleme findet man sowohl in der Mechanik als auch in der Dramaturgie der Punktevergabe.
Dramaturgie
Im aktuellen System werden erst die Punkte der Jurys in Schalten bekannt gegeben und dann die Publikumspunkte aller Länder als Summe an die Beiträge vergeben — beginnend mit dem Beitrag, der bei den Jurys die wenigsten Punkte erhalten hat. Damit wollte die EBU ein Problem des vorigen Systems beheben: Damals wurden je Land die Publikumspunkte aus dem Land und die Jurypunkte miteinander verrechnet. Dann wurden in den Schalten die verrechneten Punkte an die anderen Länder vergeben. Häufig stand der Siegerbeitrag schon fest, bevor alle Punkte vergeben waren. Dramaturgisch war das nicht allzu spannend. Ich muss allerdings sagen, dass ich es sehr wertschätzend fand, dass weiterhin andere Künstler*innen mit Punkten belohnt wurden.
Spannend bleibt es im aktuellen System, weil in der zweiten Hälfte der Punktevergabe besonders hohe Punkte tendenziell eher am Ende verkündet werden. Damit wird erst bei den letzten verkündeten Punkten sichtbar, wer tatsächlich gewonnen hat. Im alten System wurde dagegen durchgängig dieselbe Menge an Punkten immer wieder vergeben.
Die EBU dürfte also wenig Anreiz haben, als einzige Änderung auf die Jurys zu verzichten: Durch die Jurys erst entsteht im aktuellen System die Reihenfolge, die es wahrscheinlich macht, dass am Ende sehr viele Punkte vergeben werden. Denn in den meisten Fällen dürfte der Jury-Geschmack dem Publikumsgeschmack zumindest ähneln.
Wenn allerdings die Jurys einem Beitrag sehr viele Punkte geben, steht zwar der Siegertitel immer noch sehr lange nicht fest. Doch die zweite Hälfte der Punktevergabe wirkt dennoch langweilig, weil es sehr unwahrscheinlich ist, dass die Jurys überstimmt werden. Deshalb lohnt es sich, einen Blick auf die Mechanik der Punktevergabe zu werfen.
Mechanik
Vorhang auf: Hier kommt der Auftritt des Politikwissenschaftlers in mir.
Das Voting beim Eurovision Song Contest entspricht einem Wahlsystem: Die Stimmen werden in Wahlkreisen (pro Land ein Wahlkreis je für Jury und Televoting) abgegeben und verrechnet. Statt zu Abgeordneten werden sie zu Punkten. Sieger wird hier, wer sozusagen die stärkste Partei stellt.
Grundsätzlich unterscheidet man zwischen zwei Grundtypen von Wahlsystemen: Verhältniswahlrecht und Mehrheitswahlrecht. Beim Verhältniswahlrecht werden die Sitze (bzw. Punkte) proportional zu den Stimmen verteilt: Wer 10 Prozent der Stimmen bekommt, bekommt auch 10 Prozent der Sitze. Meistens gibt es Sonderregeln wie die Fünf-Prozent-Hürde, die das Ergebnis etwas verzerren. Beim Mehrheitswahlrecht gewinnt den Wahlkreisabgeordneten, wer die meisten Stimmen in dem Wahlkreis erhalten hat. Alle anderen gehen leer aus, die restlichen Stimmen kommen in die Tonne.
Das Wahlrecht hat also enorme Auswirkungen auf das Ergebnis. Wenn die SPD in jedem Wahlkreis rund 30 Prozent der Stimmen erhält und alle anderen Parteien weniger, dann bekommt sie beim Mehrheitswahlrecht 100 Prozent der Abgeordneten. Bei einem reinen Verhältniswahlrecht bekommt sie jedoch rund 30 Prozent der Abgeordneten.
Deshalb war das Bundestagswahlrecht zuletzt auch so umkämpft: Die CDU/CSU setzt auf ein sogenanntes Grabenwahlrecht, das zu je einer Hälfte das Mehrheits- und das Verhältniswahlrecht nutzt. Im Vergleich zum bisherigen Wahlrecht würde ihr das massiv Vorteile bringen. Denn die Partei ist in vielen Wahlkreisen die stärkste Partei — bei einem nicht allzu hohen Stimmanteil. Die anderen Parteien wollen ihre Macht natürlich nicht zugunsten der Union aufgeben und setzen auf das Verhältniswahlrecht.
(Die Ampel schraubt zugleich an einer Sonderregel, womit sie die Linke und die CSU hart treffen könnte. An sich ist diese Sonderregel wohl nicht nötig. Ein guter Umgang unter Demokraten ist das allerdings genauso wenig wie es eine Einführung des Grabenwahlrechts wäre.)
Je nachdem, was mit einem Wahlrecht erreicht werden soll — beispielsweise lokale Repräsentation, leichte Mehrheitsfindung oder breite Repräsentation aller Gruppen —, eignet sich ein Wahlsystem besser oder schlechter. Denn sie haben je unterschiedliche Vor- und Nachteile.
Beim Eurovision Song Contest kommt eine Modifikation der sogenannten Borda-Wahl zum Einsatz, ein semi-proportionales Wahlsystem. Es eignet sich besonders gut, wenn es darum geht, Kompromisse zu finden: Das Ergebnis ist nicht unbedingt, was am häufigsten auf Platz eins landet. Der Sieg kann stattdessen auch an Kandidaten gehen, die selten auf Platz eins landen, dafür von fast allen auf Platz zwei oder drei gesetzt werden.
Als das Wahlsystem eingeführt wurde, gab es noch nicht die technischen Möglichkeiten für ein europaweites Televoting. Alle teilnehmenden Länder stellten also eine Jury, die je gleich viel Gewicht hatte. Bei sieben teilnehmenden Ländern à zwei Beiträgen führte das Wahlsystem dazu, dass alle Länder (fast) allen Ländern Punkte geben mussten. Das Ergebnis ist ein Kompromiss der Länder.
Seit den 50ern hat sich viel verändert: Jedes Land stellt nun sozusagen einen Jury-Wahlkreis und einen Televoting-Wahlkreis. Und in jedem Wahlkreis erhält nur eine Minderheit der Beiträge auch wirklich Punkte.
Wie Lösungen aussehen können
Wie könnten also Lösungen aussehen?
Um mehr Künstler wertzuschätzen, könnten in jedem “Wahlkreis” an mehr als bislang zehn Länder Punkte vergeben werden. Nachdem die 12 Punkte zum ESC gehören wie das Amen in der Kirche, kann die Skala nicht nach oben erweitert werden. Allerdings könnten von jedem Wahlkreis an mehrere Länder drei, zwei und ein Punkt(e) vergeben werden.
Nachdem die Zweiteilung der Punktevergabe wohl beibehalten wird, könnte man der zweiten Hälfte, dem Publikumsvoting, mehr Gewicht verleihen. Wenn die 37 Jurys zusammen 2.146 Punkte vergeben dürfen, könnte das Publikum 3.000 Punkte verteilen: in einem einzigen großen Wahlkreis, per Verhältniswahl. Es weiß derzeit ohnehin niemand, welches Länderpublikum welchem Beitrag 12 Punkte gegeben hat.
Wer das aktuelle Gewicht von Jurys und Televoting weiter 50:50 halten möchte, aber dennoch dem Televoting den Ausschlag für die Bestimmung des Siegerbeitrags geben will, kann die Streuung der Punkte verändern: Jedes Land wäre wieder ein Wahlkreis. Die Jurys wären zuständig für die Vergabe vieler kleiner Punktzahlen. Das Publikum dagegen würde die wenigen großen Punktzahlen verteilen. Obwohl Jurys und Publikum insgesamt gleich viele Punkte zu verteilen hätten, könnte der Favorit aller Televoten fast doppelt so viele Punkte erlangen wie der Favorit aller Jurys.
Unabhängig davon, ob man die Jurys beibehält oder nur noch das Publikum abstimmen lässt, könnte man in einer ersten Hälfte die kleinen Punktzahlen in Schalten verkünden und dann in einer zweiten Schaltenrunde die großen Punktzahlen. Um Zeit zu sparen, ginge dieser Part auch in Splitscreens: Frankreich und Georgien sagen dann auf ihre 12 Punkte angesprochen zeitgleich “Armenien” (Ich weiß, Live-Videoschalten sind nicht leicht, aber es kann auch kurz vorher aufgenommen werden). Auf diese Art und Weise würde man auch vermeiden, dass wirklich ausgesprochen werden muss, dass manche Beiträge null Punkte vom Publikum bekommen haben.
Klug zusammengestellt, könnte so bis zum Schluss offen sein, wer gewinnt. Die Jurys könnten das Publikum nicht mehr überstimmen, aber in knappen Fällen den Ausschlag geben. Und es wäre transparent, wer für wen gestimmt hat.
Denn darum geht es doch: Dass Länder, die sich vor nicht allzu langer Zeit noch im Schützengraben bekämpft haben, sich am Ende auf einen guten Kompromiss einigen.
Bis zum nächsten Mal
Stefan