Der Songcontest und der Krieg
Wie Künstler*innen beim ESC 2023 den Krieg thematisieren und sich solidarisch mit der Ukraine zeigen
Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine prägt in diesem Jahr auch den Eurovision Song Contest — vom Austragungsort über das Design bis hin zu den Songs. Nachdem Kalush Orchestra mit “Stefania” im vergangenen Jahr den Contest gewonnen hat — zu Recht, wie ich finde, der Song ist wie auch die ukrainischen Songs der Vorjahre einfach stark —, wäre die Ukraine in diesem Jahr eigentlich das Gastgeberland. Doch schon nach kurzer Zeit hat der Veranstalter, die Europäische Rundfunkunion (EBU) entschieden, dass das Land kriegsbedingt nicht als Austragungsort in Frage kommt. Damit findet die Austragung in Großbritannien statt, nachdem das Land mit Sam Riders “Spaceman” auf Platz zwei gelandet war (Dieser Modus würde übrigens auch zum Tragen kommen, sollte Australien gewinnen.). Von allem, was man bislang von der Vorbereitung des Events mitbekommt, hat Großbritannien auch nur so darauf gewartet, nach 25 Jahren endlich wieder den Contest ausrichten zu dürfen.
Der Wettbewerb als Umarmung
Innerhalb weniger Tage überträgt die BBC damit zwei enorm große Events: die Übertragung der Krönung von Charles sowie den ESC. Auch wenn ich mit Royals nichts anfangen kann, finde ich, dass das ist ein netter Zufall ist: Die Krönung von Queen Elisabeth war die erste Live-Übertragung der Europäischen Rundfunkunion (EBU). Kurze Zeit später war der ESC das erste speziell für den Rundfunk-Zusammenschluss geschaffene Event.
Passend zu der stellvertretenden Gastgeberrolle Großbritanniens für die Ukraine ist das Motto dieses Jahr “United By Music”. Das spiegelt sich vielfach wider:
Im Design: Blau und Gelb stehen für die Ukraine, das Rot in der UK-Flagge wird leicht zu einem Pink abgewandelt.
Im Bühnenbild: Es soll eine Umarmung darstellen (und ist dabei etwas besser gelungen als diese Umarmung). Eröffnet wurde die Bühne von König Charles, der allerdings den Lichtschalter fast nicht getroffen hat. Ich werde an dieser Stelle mal darauf verzichten, darauf einzugehen, dass das britische Königshaus international nicht gerade für Umarmungen bekannt ist)
Im Programm: Die Eröffnung des Finales wird zahlreiche ESC-Stars aus der Ukraine zeigen. In der Zeit während der Abstimmung am Ende soll dann aus Liverpool stammende Musik neu interpretiert werden. Während das Kalush Orchestra das Finale eröffnet, darf Sam Rider als Vorjahres-Zweitplatzierter später am Abend singen.
Songs gegen den Krieg
Auch in einigen Beiträgen der teilnehmenden Länder spielt der Krieg eine Rolle — sofern das eben erlaubt ist. Denn die EBU sieht den Contest als komplett unpolitisches Event und hat in der Vergangenheit aus diesem Grund bereits Beiträge nicht zugelassen: Stefane & 3G wollten 2009 mit “We Don’t Wanna Put In” ein Zeichen gegen den Kaukasuskrieg Putins setzen und wurden dafür disqualifiziert (Empfehlung dazu: Arte Tracks East).
Angesichts dessen, dass ohnehin alles politisch ist, ist die Umsetzung dieser Regel auch eher willkürlich. 2007 sang Verka Serduchka so “Dancing Lasha Tumbai”, ein phonetisches Spiel mit den Worten “Dancing Russia Goodbye”. Seit dem groß angelegten Angriff Russlands singt die Drag Persona nun auch offiziell “Dancing Russia Goodbye” — und sie wird auch im diesjährigen ESC-Finale auftreten.
Im Vergleich dazu und auch im Vergleich zu dem ukrainischem Siegersong von 2016 (Jamala mit “1944”) sowie zu “Stefania” weist der diesjährige ukrainische Beitrag deutlich weniger Bezüge zu russischen Aggressionen auf. Dennoch ist “Heart of Steel” von Tvorchi ein Widerstandslied, in dem Sounds vorkommen, die an einen Luftalarm erinnern.
Kroatien wird etwas deutlicher: Die Rockband “Let 3” bringt einen Song auf die Bühne, der in erster Linie gegen Atomwaffen gerichtet ist, der allerdings zugleich gespickt ist mit Referenzen auf den Krieg Russlands. So steht in “Mama ŠČ!” “Mama” für “Mütterchen Russland”, das “ŠČ” für einen Buchstaben im kyrillischen Alphabet. Dass zudem über Traktoren gesungen wird interpretiert als Anspielung auf das Geschenk des belarussischen Diktators Lukaschenka an Putin zum 70. Geburtstag: einen Traktor. Beide werden in dem Song indirekt als “Psychopathen” bezeichnet. Der Song ist in seiner politischen Botschaft gerade noch uneindeutig genug formuliert, um nicht vom Contest ausgeschlossen zu werden, aber zugleich so eindeutig, dass die EBU den Song nur mit reichlichem Zögern zugelassen hat.
Ebenfalls etwas länger gedauert hat die Zulassung für den tschechischen Beitrag. Mit “My Sister’s Crown” bringt die Gruppe Vesna einen zunächst einmal feministischen Song. Dabei steht die besungene Solidarität unter Frauen in dem auf English, Tschechisch, Bulgarisch und natürlich Ukrainisch gesungenen Folkpop-Song jedoch auch für Solidarität unter slawischen Nationen. An einen männlichen/russischen Aggressor gerichtet singt die Gruppe: “We are not your dolls”, was als Anspielung auf die russischen Matrjoschka-Puppen verstanden werden darf.
Im Musikvideo füttert ein Aggressor dem russischen Mitglied der Gruppe eine Buchstabensuppe, die Propaganda symbolisieren dürfte. Die Russin bemalt dann die Gesichter ihrer Schwestern mit blutrotem Lippenstift, im Text heißt es “Blood’s on your God’s head”. Letztlich findet die Geschichte ein gutes Ende: Das russische Mitglied folgt dem Aufruf “Choose love over power”, der Song endet mit “Jsme v srdcích s tebou (Auf Deutsch laut DeepL: In unseren Herzen sind wir bei dir) / We stand for you”. Ich finde den Song richtig stark und kann wohl kaum verheimlichen, dass Vesna meine diesjährigen Favoritinnen sind (Es bleibt zu hoffen, dass die Qualität ihres Live-Auftritts an die des Musikvideos und der Studio-Version heranreicht — bisherige Auftritte lassen allerdings leider zu wünschen übrig.).
Der Vollständigkeit halber sei in dieser Liste der Anti-Kriegs-Lieder auch die Schweiz erwähnt. Remo Forrer singt in “Watergun” den Refrain “I don't wanna be a soldier, soldier / I don't wanna have to play with real blood”.
These countries understood the assignment. Ich hatte schon letztes Jahr kein Verständnis dafür, wenn bemängelt wurde, die Ukraine habe nur wegen des Krieges gewonnen. Der Song Contest war schon immer durch und durch politisch. Beweisstück A ist das Voting-System selbst. Es gewinnt nicht, wer die meisten Anrufe bekommen hat, nein: Länder geben einander Punkte. Nachbarschafts- und Solidaritäts-Voting ist kein bug, sondern ein feature.
In einem zusammenwachsenden Europa gewinnt nicht unbedingt der (ohnehin nicht ermittelbare) beste Song, sondern der, der Menschen am meisten zusammenbringt. Und so finde ich es berührend, dass schon 1998 eine trans Frau den Contest gewann und dass Dragkünstlerin Conchita Wurst trotz der Queerfeindlichkeit Putins aus Russland 5 Punkte bekommen hat. Und ich finde es berührend, dass, während Putin alles Ukrainische auslöschen möchte, Europa 2023 mit 180 Millionen Zuschauern ein Fest ukrainischer Kultur feiert und sich erneut zur Ukraine bekennt.
- Stefan
(Fast) alles Wissenswerte zum Eurovision Song Contest 2023
Als Anhang kommt hier noch ein kleiner Guide zum Eurovision Song Contest 2023. Die ersten Proben haben bereits begonnen. Die beiden Halbfinale finden am Dienstag, dem 9. Mai, und Donnerstag, dem 11. Mai statt. Je zehn Länder qualifizieren sich dabei für das Finale am Samstag, dem 13. Mai. Beginn ist jeweils um 21 Uhr. Die großen Geberländer sind neben dem Vorjahressiegerland und dem Gastgeberland bereits qualifiziert und müssen keine Halbfinals überstehen. Für Deutschland wird zum letzten Mal Peter Urban kommentieren, für Österreich erstmals Jan Böhmermann und Olli Schulz. Und wer möchte, kann die kommentarlosen Streams auf Youtube gucken.
Stars aus den Vorjahren im Finale
Insgesamt können sich ESC-Liebhaber auf den vielleicht eurovisionsten Eurovision Song Contest ever freuen. Unzählige Sänger*innen aus den Vorjahren sind wieder für die Eröffnung und die Intervall-Acts zu Gast, darunter Verka Serduchka, Daði Freyr, Go_A, Mahmood, Duncan Laurence und natürlich die Vorjahressieger vom Kalush Orchestra (sowie Zweitplatzierter Sam Rider). Außerdem treten erneut Pasha Parfeni (Moldau 2012), Marco Mengoni (Italien 2013), Monika Linkyte (Litauen 2015) und Gustaph (Backgroundsänger Belgien 2018 und 2021) auf, sowie die schwedische Siegerin von 2012, Loreen. Letztere gilt als klare Favoritin unter Fans, Buchmachern und Teilnehmern.
Ein Wermutstropfen bleibt allerdings: Einige Länder können sich den ESC dieses Jahr finanziell nicht mehr leisten. Bulgarien, Montenegro und Nordmazedonien werden nicht mehr mit einem eigenen Beitrag dabei sein.
Neu im Finale 2023
Abstimmen dürfen sie trotzdem: Zuschauer aus Ländern, die nicht teilnehmen, können erstmals auch voten. Ihre Stimmen werden dann in einer “Rest of the world”-Vote zusammengefasst und ebenfalls als 12, 10, 8, etc. Punkte vergeben. Außerdem neu ist die Änderung, dass Jurys in den Halbfinals nichts mehr zu sagen haben und dort nur noch das Zuschauer*innen-Voting zählt — eine Reaktion auf den Betrug durch sechs Länderjurys im Vorjahr.
Ungewöhnlich ist, dass dieses Jahr kein einziger Song eine Rückung hat. Das ist in der Geschichte des Contests zuvor noch nie vorgekommen, im Jahr 2000 hatten noch 16 Songs eine Rückung. Dieses Bingo-Feld kann also dieses Mal nicht abgekreuzt werden. (Hier ein Podcast zur Frage, wer die Rückung in der Pop Musik umgebracht hat)
Meine Favoriten 2023
Basierend ausschließlich auf den Studio-Versionen sind das meine vorläufigen Favoriten:
12 Punkte: Tschechien: “My Sisters Crown” (Vesna)
Obviously.
10 Punkte: Estland: “Bridges” (Alika)
Dieser Song ist nicht irgendwie besonders, aber dafür einfach richtig richtig gut und stimmig.
8 Punkte: Österreich: “Who The Hell is Edgar?” (Teya & Salena)
Der Song wirkt erstmal so, als hätte die Fachschaft Englisch des Friedrich-Schiller-Gymnasiums in Hinterwippenstedt versucht, den Unterricht “cool” zu gestalten, entwickelt sich dann aber schnell zum absoluten Banger. Ich erwarte, dass ganz Europa vorab die Choreographie lernt und mittanzt.
7 Punkte: Schweden: “Tattoo” (Loreen 🏳️🌈)
Alle halten sie für die Favoritin, inklusive der Teilnehmer*innen, und das zu Recht. “Euphoria” war einer der stärksten Siegersongs der vergangenen Jahre und mit “Tattoo” wandelt sie das Erfolgsrezept nochmal ab.
6 Punkte: Norwegen: “Queen Of Kings” (Alessandra 🏳️🌈)
Whistle note incoming. Kraftvoll.
5 Punkte: Frankreich: “Évidemment” (La Zarra)
Chanson trifft Eurodance-Elemente. Ich erwarte von der Bühnenshow 100 Prozent Frankreich. Eiffelturm, Tricolore, womöglich sogar ein Baguette. Einfach das ganze Programm, aber in classy.
4 Punkte: Großbritannien: “I Wrote A Song” (Mae Muller)
Ihr kennt Mae Muller als das kleine Mädchen zu Beginn des Musikvideos von Mikas “Grace Kelly”.
3 Punkte: Finnland: “Cha Cha Cha” (Käärijä)
Metal-Rap mit einem großartigen Twist. Käärijä ist diese eine Person bei einer internationalen Jugendbegegnung, die sich zwar kaum verständigen kann, aber einfach knuffig und unproblematisch witzig ist und so die Gruppenstimmung ordentlich pusht.
2 Punkte: Serbien: “Samo Mi Se Spava” (Luke Black 🏳️🌈)
Wundervoll beklemmend.
1 Punkt: Italien: “Due Vite” (Marco Mengoni)
Ok, die Formel dieser Liebes-Ballade ist tragisch simpel. Aber sie funktioniert.
Honorable mentions
Noa Kirel bringt für Israel in diesem Jahr ein Dance Break, mit Spanien 2022 mithalten kann. Spanien schafft es, traditionelle Musik Andalusiens modern umzusetzen, auch Portugal ist in der Hinsicht stark. Gustaph 🏳️🌈 wird auf der Bühne Vogue-Künstlerin PussCee West 🏳️🌈 dabeihaben. Und auch der deutsche Beitrag kann sich sehen lassen - findet allerdings kaum Beachtung (Der NDR hat einfach nicht verstanden, dass ein guter Song vorab vermarktet werden muss, um auch nur den Hauch einer Chance zu haben…).
Was sind Eure Favoriten? Schreibt sie in den Chat!
Bingo
Für alle Interessierten sind hier unsere Bingo-Felder des Vorjahrs zum Ausdrucken. 2022 konnten wir alle Felder abkreuzen.
Wenn ihr tolle Ideen für neue Bingo-Felder habt, teilt sie gerne mit mir in den Kommentaren.
Einstimmung
Ich kann die beiden Halbfinals sehr empfehlen. In den vergangenen Jahren haben es viele spannende, ungewöhnliche und nicht-englische Songs nicht ins Finale geschafft. In den Halbfinals ist der Songcontest deutlich vielfältiger. Zum Einstimmen empfehle ich außerdem das hier:
tolle Interval-Acts aus den Vorjahren: Der Switch Song in Israel 2019 und “Love Love Peace Peace” aus Schweden 2016.
dieses Tiktok, in dem eine Freundin der isländischen Teilnehmerin Diljá versucht diese mit der norwegischen Teilnehmerin Alessandra zu verkuppeln
Tiktoks, in denen Alexander Rybak kein bisschen gealtert ist und zwei Songs des aktuellen Jahrgangs mit seiner Geige begleitet
Loreen, wie sie “du klebst an mir wie ein Tattoo” singt
Stage Managerin Sue macht Loreen die Nägel
der Song “Gladiator” von Jann. Er wurde im Vorfeld als Anwärter auf den Sieg in Liverpool gehandelt — wurde dann jedoch von der polnischen Jury zu schlecht bewertet. Stattdessen gibt nun Blanka für Polen ihr bestes bejba vor Tropenkulisse zum Besten (Sie bekommt online ziemlich viel Häme ab, und liked Posts, in denen sie verteidigt wird, leider auch dann, wenn Jann darin homophob beleidigt wird).
diese ARTE-Doku darüber, welche Bedeutung der ESC für Gesellschaften in Osteuropa zum Teil hat
der Netflix-Film zum Contest, mit den Top-Hits “Volcano Man” und “Jaja Ding Dong” sowie einem iconic Song-Along mit Conchita Wurst, Netta, Loreen, Bilal Hassani, Jamala, John Lundvik, Anna Odobescu, Jessy Matador und Elina Nechajeva.
Nicht-(ausschließlich)-englischsprachige Songs
Ich finde, die Sprachenvielfalt macht den Song Contest mit aus. Deshalb habe ich hier eine Spotify-Playlist erstellt, in der alle 17 diesjährigen Songs aufgeführt sind, die nicht nur auf Englisch gesungen werden:
Und damit bleibt mir nur noch, euch eine schöne ESC-Woche zu wünschen.
Merry Gay Christmas!