🌱 Die CO2-Würfel müssen weg: Ein Spiel, das zeigt, was schaffbar ist
Kipppunkte und Katastrophen: Das Klima-Brettspiel "e-Mission" beschönigt nichts. Warum es dennoch Optimismus versprüht.
Als die Pandemie nach Deutschland kam, und viele angesichts der noch niedrigen Zahlen den Ernst der Lage nicht sahen, hatte meine Mutter verstanden: „Das kann dann ganz schnell gehen.“
Exponentielles Wachstum war für sie wie für die meisten Deutschen wahrscheinlich noch ein Fremdwort, intuitiv verstanden hatte sie es trotzdem. Denn wir hatten in zahlreichen Runden des kooperativen Brettspiels „Pandemic“ versucht, die Welt vor bunten Seuchen-Würfeln zu retten. Viel zu oft war es vorgekommen, dass wir zu nachlässig waren beim Entfernen der Steinchen von der Weltkarte und sie sich in Windeseile vermehrten. Schien die Lage in einem Moment noch unter Kontrolle, war kurze Zeit später alles verloren.
„Pandemic“ von Matt Leacock war eines der Spiele, von denen wir unbeteiligten Dritten aufgeregt erzählten, als wären wir kleine Kinder, die frisch aus einem actiongeladenen Kinofilm kommen. Brettspiele haben hier als Kulturgut eine besondere Stärke: Sie können Systeme erlebbar machen, ohne dass man zwingend die mathematischen Prozesse dahinter vollständig verstanden haben muss.
Von Seuchen-Würfeln zu CO2-Würfeln
Während eine echte Pandemie zunehmend die Welt auf den Kopf stellte und meine Mutter mit Verweis auf das Brettspiel ihr Umfeld warnte, machte sich der Erfinder des Spiels an ein neues Thema: Die Klimakrise.
Als ich das Klima-Spiel „Daybreak“ von Matt Leacock und Matteo Menapace, das in Deutschland leider den unangenehm wortspielerischen Titel „e-Mission“ trägt, rund drei Jahre später in den Händen hielt, waren viele Freunde skeptisch. Warum sollte man seinen Abend damit verbringen, sich die Stimmung von der Klimakrise vermiesen zu lassen, wenn man stattdessen auch Catan besiedeln, Azulejos legen oder zum neunten Planeten fliegen kann?
Dass Gesellschaftsspiele häufig in vergangenen, meist idealisierten Epochen angesiedelt sind, ein Fantasy-Thema besitzen oder völlig abstrakt gehalten sind, ist sicher kein Zufall. Sie bieten mehr Eskapismus als viele andere Aktivitäten, mit denen man einen gemeinsamen Abend verbringen kann. Und ist es nicht auch etwas makaber, diese Themen zu spielen?
Wie passt das zusammen: Klimakatastrophe und Brettspiel? Kann man eine Menschheitskrise in eine Schachtel stecken und dann, beim Öffnen einen schönen Abend mit Freunden verbringen? Darum soll es in dieser Ausgabe meines Newsletters gehen. Schön, dass Du dabei bist!
Lesedauer: ca. 7 Minuten
Alle im selben Boot
Anders als manche andere Klimaspiele (z. B. “Kyoto: Money makes the world go down”) ist „Daybreak“ kooperativ. In „Daybreak“ haben alle verstanden: Wir sitzen alle im selben Boot. Entsprechend haben auch alle Mitspieler*innen das Spiel verloren, wenn in einem der Kontinente zu viele Gemeinschaften von Krisen betroffen sind.
Gewonnen ist das Spiel dagegen, wenn weniger CO2-Würfel in die Atmosphäre gegeben werden als von der Natur wieder aufgenommen werden können. Geschehen muss das vor 2050 und bevor das Thermometer 2,0 Grad erreicht.
Wie auch bei „Pandemic“ wird hier erlebbar, wie sich die Klimakrise immer schneller zuspitzen kann: Das CO2, das die Spieler zu viel produzieren, führt zu einem Anstieg der Temperatur. Je höher diese ist, desto mehr verschlimmert sich beispielsweise das Abschmelzen der Polkappen und desto mehr Krisen bedrohen jede Runde die Bevölkerung. Je mehr Gemeinschaften von Krisen betroffen sind, desto mehr schwindet die Fähigkeit der Spieler, etwas gegen die Klimakrise zu unternehmen. Die Lage verschärft sich zudem weiter, wenn Kipppunkte im Klimasystem überschritten werden.
Was hier etwas düster klingt und durchaus Spannung aufbaut, fühlt sich als Spieler*in nicht so aussichtslos an. Während wir im Leben als Normalbürger*innen oftmals darüber verzweifeln können, wie die Welt in Flammen steht und nicht annähernd genug getan wird, um schlimmeres zu verhindern, haben wir es hier für ein bis zwei Stunden literally selbst in der Hand: (Fast) jede erdenkliche Art, die Klimakrise abzuschwächen und die Bevölkerung vor den Folgen zu schützen haben die Macher auf Karten gedruckt, die wir möglichst klug kombinieren können.
Wer Hochrisikotechnologien wie Atomkraft und Geo-Engineering nutzen möchte, kann das (mit entsprechenden Vorkehrungen und Risiken) genauso tun, wie diejenigen, die auf Windräder, wiedervernässte Moore und autofreie Innenstädte setzen möchten. Und auch eher weniger bekannte Möglichkeiten wie Green Quantitative Easing kommen vor.
The science is clear, so are the rules
Das Spiel hat eine Klarheit, die die politische Diskussion in der Öffentlichkeit vermissen lässt: Unser CO2-Budget ist begrenzt. Jedes Gramm CO2 hat Auswirkungen. Keine Maßnahme ist ein Allheilmittel — nicht einmal “Innovationen” wie E-Fuels oder unterirdische CO2-Speicher. Und wenn ich mich mit Verweis auf den CO2-Ausstoß Chinas weigere, selbst CO2 zu vermeiden, bekomme ich dafür in Form von Krisen und Verwüstung die Quittung.
Wenn ich mich richtig erinnere — ich finde leider das Video nicht mehr —, war es Harald Lesch, der es einmal so gefasst hat:
Gebote sagen: Du sollst nicht.
Gesetze sagen: Du darfst nicht.
Und Naturgesetze sagen: Du kannst nicht.
Genau das beherzigt dieses Spiel.
Vor der nächsten Bundestagswahl will ich keine Kanzlerduelle und Talkshows, sondern eine Gameshow-Umsetzung des Brettspiels. Expert*innen schätzen vorab ein, was verschiedene Klima-Maßnahmen bringen. Die zur Wahl stehenden Politiker*innen werden dann vor die Wahl gestellt, welche Optionen sie wählen wollen. Wer weiter auf Verbrenner und Massentierhaltung setzen will, muss eben zeigen, wo das CO2 stattdessen vermieden werden soll. Und wer weiterhin mit zu viel CO2 die Atmosphäre verpestet, muss am Ende der Show Kindern die Karten über Krisen vorlesen, die die eigene Politik verursacht hat, beginnend mit den Worten: „Das kommt auf euch zu, wenn ich Kanzler*in werde.”
Gramsci auf dem Spielbrett
Ich weiß, das wirkt makaber, wenn auf dem Spielplan Communitys Krisen erleiden. Aber so ist eben unsere Realität. Jedes Mal, wenn wir ins Auto steigen, das Handy laden, Essen kochen oder warm duschen — jedes Mal, wenn wir auch aus gutem Grund diese alltäglichen Dinge tun, bringen wir reale Menschen in Gefahr. Das ist die Welt, in der wir leben.
Wir können davor die Augen verschließen und wahrscheinlich müssen wir es ein Stück weit auch, um morgens überhaupt noch aus dem Bett zu kommen. Doch Eskapismus alleine bringt uns nicht weiter.
“Daybreak” erinnert mich an einen Satz des Philosophen Antonio Gramsci:
“Was wir brauchen, ist Nüchternheit: einen Pessimismus des Verstandes, einen Optimismus des Willens.”
Die Spielmechanik spiegelt die harte Realität der Naturgesetze unbeschönigt wider, vom Tauen des Permafrostbodens bis hin zu den zahlreichen drohenden Klimafolgen. Solange man jedoch die Spielregeln der Natur anerkennt und sich nicht weigert, die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, ist „Daybreak“ ein außerordentlich optimistisches Spiel.
Die Macher schreiben selbst:
„Wir haben uns vorgenommen, ein Spiel zu entwickeln, das eine aufmunternde Geschichte zur Dekarbonisierung der Welt erzählt – eine Geschichte, in der wir alle nicht nur überleben, sondern auch gedeihen können.“
„Daybreak“ zeigt nicht nur, was alles möglich ist, wenn man nur will. Sondern es modelliert auch technologische, ökonomische und gesellschaftliche Kipppunkte. Nicht nur Mechanismen im Erdsystem können plötzlich an Tempo zulegen, auch wir können es. Wer entschieden handelt, kann in kurzer Zeit viel erreichen und durch starke Kartenkombinationen eine scheinbar aussichtslose Partie doch noch drehen.
Erzählt mir doch nicht, dasset nich jeht!
Das Spiel lehrt einen gesunden Trotz: Mag sein, dass wir immer noch Berge an CO2 ausstoßen, Kipppunkte gegen uns arbeiten und die Zeit rennt. Trotzdem: Wir machen weiter und feiern jeden noch so kleinen Erfolg —so lange, bis wir es geschafft haben. Erzählt mir doch nicht, dasset nicht jeht! Erzählt mir doch nicht, dass wir ohne Kohle, Öl und Gas kein gutes Leben mehr haben können!
Besonders leuchtend sind die Momente, in denen wir uns gegenseitig helfen. Die Möglichkeiten dazu sind in “Daybreak” sehr begrenzt – umso größer ist die Freude, wenn es gelingt. Dabei wird deutlich, wie absurd es eigentlich ist, dass Staaten auf Klimagipfeln auf ihrem Geld und ihrem CO2 beharren wie Gollum auf dem Einen Ring. Wie sehr doch Logiken von Krieg und Konkurrenz noch in unser politisches System eingebettet sind – und wie viel Freude es machen könnte, wenn wir uns auf dem Weg in eine gemeinsame bessere Zukunft gegenseitig beistehen würden.
Weiterführende QR-Codes und ausbremsende Einstiegshürden
Wer nach dem Spiel über die gewählten Maßnahmen mehr erfahren will, kann die QR-Codes auf den Karten einscannen. Für jede von ihnen haben die Autoren und Verlage kurze erläuternde Texte geschrieben und Links zu Erklärvideos, Berichten und wissenschaftlichen Artikeln gesammelt. Zudem werden Regelfragen geklärt und Möglichkeiten aufgezeigt, wie man sich für die Klimaschutzmaßnahme einsetzen kann. Hier macht sich auch bemerkbar, dass die Autoren mit Expert*innen zusammengearbeitet haben, wie etwa mit dem Red Cross Red Crescent Climate Center.
Obwohl “Daybreak” von den Autoren als „gehobenes Kennerspiel“ eingestuft wird, sind die Regeln eingängig und auch für Zehnjährige verständlich. Wer des Englischen mächtig ist, kann nach einem kurzweilig gehaltenen, 10-minütigen Erklärvideo losspielen. Auch der deutsche Verlag hat ein Regelvideo veröffentlicht, das leider etwas trockener und länger geraten ist. Zum Einstieg gibt es außerdem Karten, mit denen der Schwierigkeitsgrad etwas angepasst werden kann.
Einige andere kooperative Spiele haben Mechanismen, die die Schwierigkeit im Spielverlauf automatisch an die Stärke der Spieler anpassen, um niemanden zu überfordern, aber auch niemanden zu langweilen. “Daybreak” hat das nicht. Wer es verpasst, früh CO2 zu sparen, muss später teuer in den Schutz vor Klimafolgen investieren — und schafft es darüber hinaus dann häufig kaum mehr, CO2 einzusparen. Das Spiel ist an der Stelle schlichtweg realistisch. (Wenn man es 16 Jahre lang verpasst, ein Land klimafreundlich umzubauen, steht man später eben vor der Entscheidung: Entweder soziales Klimageld oder stattdessen Heizungsförderung?) Den Spielspaß kann das jedoch mindern: In seltenen Fällen kann es passieren, dass man zu Beginn nur Kartenpech hat und deshalb weder in CO2-Reduktion noch in Forschung investieren kann, selbst wenn man es gerne möchte.
Die größte Hürde ist wohl der schmerzhafte Kaufpreis von „e-Mission“ in Deutschland (UVP: 77,99 Euro, niedrigster Preis bislang: 41,49 Euro). Er ist nicht nur auf die Inflation und anhaltende Lieferkettenprobleme im Brettspielbereich zurückzuführen, sondern ironischerweise auch durch die klimafreundliche Produktion des Spiels entstanden: in Deutschland statt in China, mit Pappe statt mit Plastik, und mit neuartigen, noch nicht skalierenden Produktionsweisen. Bis dieser vorbildliche Standard günstiger ist als klimaschädlichere Spiele, muss leider noch einiges geschehen.
Fazit
Kunst und Kultur können uns helfen, das Geschehen in der Welt zu verstehen, es zu bewerten und damit einen Umgang zu finden. Und selten wurde in einem spannenden Spiel mit erstklassigen Mechanismen so gut gezeigt, wozu das „Kulturgut Spiel“ in der Lage ist. „Daybreak“ eröffnet nicht nur wie andere Spiele eine neue Welt, sondern es zeigt die unsere. Mit all ihren Herausforderungen und Chancen. Es lädt uns ein, das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen. Und es zeigt, wie gut die Zukunft werden kann.
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Für alle, die noch nicht genug haben: In diesem Jahr kommt mit “Catan — Energien” ein weiteres Klima-Brettspiel auf den Markt, das allerdings kompetitiv bleibt. Hier habe ich eine kleine Lobeshymne auf das Grundspiel geschrieben, das 1995 den Spielemarkt revolutionierte: