Wenn ich für jedes Mal, wenn mein Partner und ich händchenhaltend von Fremden fotografiert wurden, einen Cent bekommen hätte, hätte ich mindestens zwei Cent. Das ist nicht viel, aber es ist seltsam, dass es mindestens zweimal passiert ist.
Das erste Mal geschah es in einem Zug in Polen. Wir bemerkten es, weil die Frau gegenüber den Auslöserton ihrer Kamera auf voller Lautstärke hatte. Dann tat sie so, als wäre nichts passiert.
Das zweite Mal war 2018 in München. Der Fotograf kam aus Belarus, oft noch als Weißrussland bekannt, und es war der Beginn einer internationalen Jugendbegegnung. Wir hatten noch nicht miteinander gesprochen, und ich befürchtete, er könnte homophob sein.
Ein paar Tage später erzählte er mir, dass er selbst schwul sei und seine Beziehung zu seinem Partner verheimlichen müsse. Für ihn war es etwas Besonderes, dass mein Partner und ich Händchen halten konnten. Ich weiß nicht, wann mein Partner und ich zuletzt in der Öffentlichkeit Händchen gehalten haben. Deutschland ist auch in dieser Hinsicht nicht das Paradies, als das es sich der weißrussische Teilnehmer vielleicht vorgestellt hat. Aber wenigstens kann man hier nicht für vier Jahre ins Gefängnis kommen, weil man Händchen gehalten hat, wie es seit April in Weißrussland der Fall ist.
Seit 2009 ist in der EU "jede Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung verboten". Die Praxis hinkt auch hier den Werten hinterher, man schaue nur nach Italien unter Giorgia Meloni, wo Kinder von ihren homosexuellen Eltern getrennt werden. Dennoch ist die EU nicht wirkungslos: Wer in Deutschland als homosexuelles Paar heiratet, muss auch in Italien als verheiratet anerkannt werden. Und das Recht auf Familie kann von betroffenen italienischen Paaren und Kindern vor europäischen Gerichten eingeklagt werden.
Wie stark die europäische Integration ist, konnte ich bei einem queeren Stammtisch im rumänischen Cluj-Napoca beobachten. Dort erzählten mir Aktivisten, dass eines ihrer stärksten Argumente im Kampf um Gleichberechtigung die EU sei. Ohne LGBTQIA-Rechte kein Beitritt zur EU und zum Binnenmarkt, behaupteten sie in Talkshows.
Queere Menschen stehen wie alle Minderheiten im Zentrum der Frage: Europa oder Russland? Als die georgische Regierung das „Agentengesetz“ nach russischem Vorbild einführte, begründete sie dies mit dem Kampf gegen "LGBT-Ideologie“. Kaum war das Gesetz verabschiedet, folgten Entwürfe für weitere queerfeindliche Vorhaben. Die Reaktion aus Europa war eindeutig: So könnt ihr nicht der EU beitreten. Das wussten auch die Zehntausenden, die gegen das Gesetz demonstrierten. Sie wollten sich nicht von Putin annektieren lassen.
Ich weiß nicht, wo der Teilnehmer der Jugendbegegnung aus Weißrussland heute ist. Ich hoffe, er ist in Sicherheit.
Auch wenn es leider keine Selbstverständlichkeit mehr ist, bin ich stolz darauf, dass die EU einigen meiner Bekannten aus Weißrussland Zuflucht gewährt hat. Eine weißrussische Wissenschaftlerin, die ich in Belarus kennenlernen durfte, kann jetzt -anders als dort - frei und ohne politische Vorgaben zum Thema Holocaust forschen.
Europa ist ein Sehnsuchtsort, und wenig ist so stark wie die Hoffnung, dass alles besser werden kann. Das vergessen wir allzu oft. Es gibt immer noch viele Dinge, die nicht gut oder sogar sehr schlecht laufen. Ich verstehe diejenigen, die frustriert sind von EU-Normen oder seitenlangen Förderanträgen. Mich persönlich frustriert, dass die EU noch nicht auf einem 1,5-Grad-Pfad ist.
Aber wenn ich sehe, was die EU gegen alle Wahrscheinlichkeit geschafft hat, bin ich sehr berührt. In den letzten fünf Jahren ist es gelungen, von einem katastrophalen 4-Grad-Pfad der Erderwärmung auf etwas über 2 Grad zu kommen. Und in den letzten 73 Jahren wurde eine Friedensordnung geschaffen, die aus Erzfeinden enge Freunde gemacht hat. Auch weil hier das Unmögliche möglich gemacht wurde, ist die EU ein Sehnsuchtsort.
EU oder Russland - das steht auch auf unserem Wahlzettel. Putins Kriegsführung ist nicht nur konventionell, sondern hybrid: Am Tag seines Großangriffs auf die Ukraine versuchte er, die Stromerzeugung durch Windkraftanlagen in Europa lahmzulegen. Über Schattennetzwerke finanziert er seine politischen Gefolgsleute in bestimmten Parteien, von Desinformationskampagnen ganz zu schweigen.
Putins Einfluss zeigt sich auch, wenn hier in Europa Schritt für Schritt sein Vorgehen gegen queere Menschen übernommen wird. Wenn demokratische Parteien von „Gender-Ideologie“ sprechen und queere Menschen als Gefahr für Kinder darstellen. Putins Russland ist nicht nur eine Bedrohung für unsere Sicherheit, sondern für alles, wofür Europa steht.
Er hat erkannt, dass er seinen Einfluss vergrößern kann, wenn Europa kein Sehnsuchtsort mehr ist. Lassen wir das nicht zu!
Noch bis 18 Uhr könnt ihr zu Eurem Wahllokal rennen. Sorgt dafür, dass eure Stimme zählt.