“Ein Verbotsverfahren würde der AfD nur nützen”, hieß es in den vergangenen Wochen häufig. Mal davon abgesehen, dass es mittlerweile für und auch gegen jede politische Maßnahme heißt, diese würde nur der AfD nutzen — fast so, als würde sich die AfD die Realität einfach so hin biegen, wie sie sie gerade braucht — ist da natürlich ein Fünkchen Wahrheit drin: Es ist suboptimal, wenn die politischen Gegner der AfD erst den Schiedsrichter aufwecken müssen, bevor dieser rote Karten verteilen kann.
Deshalb fordere ich Verbotsverfahren für alle Parteien! Schließlich ist mit der Einleitung des Verfahrens noch lange nicht entschieden, ob eine Partei verboten wird. Darüber entscheidet das Bundesverfassungsgericht.
Es wäre natürlich ein billiger Trick, wenn die Parteien des Bundestags gegen sich selbst diese Verfahren einleiten lassen, um ein Opfer-Narrativ der AfD vorsorglich auszuschließen. Zugleich würde es den etablierten Parteien aber auch nicht schaden, in strukturierter Weise an den Maßstäben unserer liberalen Demokratie gemessen zu werden. Zu viele Versuchungen gab es in den vergangenen Jahren, sich einer erfolgsversprechenden Radikalisierung hinzugeben. Ein Verbotsverfahren würde Anreize für das Gegenteil geben: Alles dafür zu tun, dass der Verbotsantrag so schnell wie möglich als offensichtlich unbegründet abgewiesen wird.
Niemand will ein AfD-Verbot
Die Krux ist doch, dass niemand aktuell ein Verbotsverfahren will. Die demokratischen Parteien fürchten, dass es der AfD nutzt oder sie keinen Erfolg haben. Das Bundesverfassungsgericht fühlt sich ebenfalls unwohl in seiner Rolle als Schiedsrichter, wie es in den Urteilen zu den bisherigen Verbotsverfahren durchscheinen ließ. Und die Bevölkerung ist mehrheitlich ohnehin irritiert, wenn da ein politischer Wettbewerber aus dem Verkehr gezogen werden soll — im Unterton schwingt ein Raunen mit: Das ist ja wie in einer Diktatur!
Parteienverbotsverfahren sind lebenswichtig für unsere Demokratie
Dabei sind Parteienverbote ein zentraler Bestandteil unserer liberalen Demokratie. Im Grundgesetz durfte der entsprechende Artikel sogar auf den vorderen Rängen Platz nehmen.
Das Demokratieverständnis der Bevölkerung geht allerdings leider nicht über die wörtliche Übersetzung hinaus: “demos” = das Volk, “kratein” = herrschen. Das haben alle noch aus dem Politik- oder Sozialkundeunterricht mitgenommen, aber weiter ging die Lehre oder die Aufmerksamkeit dann doch nicht. Damit aus der Herrschaft des Volkes nicht die Diktatur der Mehrheit wird, haben wir in Deutschland glücklicherweise zahlreiche Maßnahmen. Hier kann nicht einfach jede menschenfeindliche Idee umgesetzt werden, nur weil das eine (angebliche) Mehrheit will.
Diese Demokratie hat Grenzen und das ist gut so.
Die Rechtsstaatlichkeit grenzt ein, dass niemand über dem Recht steht. Der Staatsaufbau und das Wahlrecht, grenzen ein, worüber entschieden werden darf. Die Menschenwürde und die Menschenrechte grenzen ein, was in Deutschland beschlossen werden kann. Der Minderheitenschutz grenzt ein, dass niemand durch Gesetze ausgeschlossen werden darf.
Und Verbotsverfahren grenzen ein, wer mitentscheiden darf. Wer diese Demokratie vergiften will, muss draußen bleiben.
Alle Parteien profitieren von der AfD - bis sie es nicht mehr tun.
Und trotzdem will niemand wirklich von einem Verbotsverfahren gegen die AfD Gebrauch machen. Zu verlockend können die Vorteile sein, sie weiterhin mitspielen zu lassen: Die CDU/CSU und die FDP können in Verhandlungen mit den anderen Parteien mit der Machtoption rechts kokettieren (oder, wie in Thüringen, sie gezielt nutzen), um möglichst viele eigene Punkte durchdrücken zu können. Aber auch für Grüne und SPD ist die Existenz der AfD von Vorteil: Je größer die AfD wird, desto schlechter kann die CDU/CSU Koalitionen ohne Grüne und SPD bilden, wenn sie nicht zur AfD greifen will. Und auch diejenigen, die sich auf einem Links-Rechts-Spektrum rechts verorten, können darauf hoffen, dass ihre Positionen mittig erscheinen, wenn die AfD nur die Gesellschaft weit genug nach rechts zieht.
Doch im Rausch übersieht man schnell, dass Faschismus wie Alkohol eben ein Gift ist. Irgendwann kommt womöglich der Tropfen, der zu viel ist, obwohl alle wissen müssten, dass schon der erste Tropfen schadet.
In den USA kann man das gerade sehr gut beobachten: Lange wurde Donald Trump von den gemäßigteren Konservativen geduldet, weil sie sich Machtoptionen erhofften. Weil sie hofften, er könne durch die Institutionen und die Mechanismen der Demokratie eingefangen und zu Kompromissen gezwungen werden. Doch dann führte er einen Umsturzversuch an.
Wer heute in der Republikanischen Partei sagt, dass Joe Biden die Wahl gewonnen hat, verliert schnell all seine Ämter und hat nichts mehr zu vermelden. Trump dagegen sagt mittlerweile ganz offen, dass er an Tag eins einer neuen Präsidentschaft Diktator sein möchte.
Sowohl die USA als auch Polen haben es geschafft, sich - vorerst - aus den Schlingen der Rechtsextremen zu befreien. Doch es ist offen, ob sie in Sicherheit bleiben und der Schaden ist enorm. Wie reformiert man einen polnischen Rundfunk oder ein Justizsystem, in dem Nazis an entscheidenden Stellen installiert wurden — ohne selbst undemokratische Methoden wählen zu müssen?
Insofern ist ein Verbotsverfahren ein kleiner Eingriff, der eine Vielzahl von Eingriffen verhindern kann.
Wir können nur gewinnen
Dass ein Verbotsverfahren beantragt werden muss, bevor das Bundesverfassungsgericht tätig werden kann, ist eine Schwachstelle, die uns alle in peinliche Verlegenheit bringt. Aber am Ende kann es nur Gewinner geben: Die AfD, wenn sie in Reaktion auf das Verfahren es doch noch schafft sich zu mäßigen und Nazis und Menschenfeindlichkeit rauszuwerfen.
Und die Demokratie: Wir alle, die unter dem Schutzschirm unserer Verfassung in Frieden und Sicherheit leben dürfen.
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